
Der blau-grüne See liegt glatt in einer Felsschüssel wie eine magische Tinktur. Kleine weiße Blumen bemühen sich ums Blühen auf der mageren, hochalpinen Wiese, auf der ich sitze. Hinter mir raschelt mein Mann in unserem kleinen Trekkingzelt herum. Irgendein Hering ist noch nicht perfekt. Aber das ist egal. Denn um uns herum ist schon so viel Perfektion, so viel Schönheit, dass ich mich kaum bewegen mag, aus Angst, es könnte alles in Scherben aufgehen. Hier sind wir. In der Wildnis in den Rocky Mountains oberhalb der Baumgrenze, wo es an nur drei Monaten im Jahr halbwegs warm und schneefrei genug ist, um überhaupt herzukommen. Über 3000 Meter hoch, keine Straßen, keine Infrastruktur, kein Lampenlicht, keine Häuser, kein Signal. Das Einzige, was einen hier herbringt, sind die Füße. Der einzige Schutz ist das Zelt, das man mitschleppt. Einen aufregenden Trek hatte ich erwartet – und ein paar Seen. Aber dann waren wir kopfüber ins Paradies gerattert. Ich sage es nicht leichtfertig: dies war einer der schönsten Treks der Welt.
Und genau deshalb werde ich auch nicht öffentlich sagen, wo genau er ist. Nur wenige Einheimische kommen ab und zu hier zum Klettern und Angeln her. Es ist wilde Wildnis außerhalb von Nationalparks, Campgrounds und Strukturen. Public Land, das jedem zur Verfügung steht, ähnlich wie beim „Jedermannsrecht“ in Norwegen. Hinterlasse keine Spuren außer Fußspuren, nimm nichts mit, außer Fotos, ist der Leitsatz, der auch tatsächlich gut eingehalten hier draußen. Im Paradies. Wo Blumenteppiche blühen, türkise Seen glitzern, ein paar Schneereste lauern und man ganz auf sich allein gestellt ist. Wild.

„Ich will noch einmal richtig in die Wildnis“, sage ich zu meinem Mann, wenige Tage bevor ich aus den USA ausreisen werde und mein Sommer hier zu Ende geht.
Er schlägt Yellowstone vor. Doch ich habe eine andere Idee. Neulich waren wir in diesem Gebirge gewesen. Auf über 15 Kilometern Wanderung hatten wir keinen anderen Menschen gesehen, aber dafür Tonnen von Wildblumen, Seen, Spechte und sogar einen kleinen Schwarzbären. Und das Beste: das unfassbar weite, schroffe Gebiet ist als „Public Land“ ausgewiesen, was bedeutet, dass Trekking und Camping mit Zelt überall erlaubt ist, solange man nach einigen Tagen den Platz wechselt und sich an einige Regeln hält. Sofort überschlägt sich mein Wildherz: Boah, hier einen ganzen Sommer herumziehen und nur ab und zu für Futter in die Zivilisation zurückkehren!
Aber vielleicht sollten wir erstmal mit ein paar Tagen anfangen, bevor ich direkt daran dachte, alles zu verscherbeln, meine Adresse und meinen Namen zu vergessen und in den Wald zu ziehen.
Der Trek, den wir uns raussuchen, führt an einer Kette von kleinen Seen entlang und ist insgesamt nur elf Kilometer lang. Doch es soll nicht um Meilen gehen, sondern um das Erleben draußen in dieser wilden Natur. Das Sein. Und so stiefeln wir los, bepackt mit Zelt, Futter für drei Tage, Gaskocher, Satellitentelefon und einem Bär-Kanister.
Hä – was ist das denn? Nun, das Gebirge ist Heimat von Bären. Schwarz und Grizzly. Wer hier schon etwas länger mitliest, weiß, dass man sein Essen in der Wildnis vor Bären schützen muss, weil man sonst ganz schnell zum Nachtisch wird. Normalerweise hängt man seine Verpflegung deshalb an einem Seil in hohe Bäume. Jetzt liegt das Ende des Treks aber oberhalb der Baumgrenze. Ja, Mist. Deshalb kann man in Outdoor-Geschäften in der Gegend extra zertifizierte Hartplastikboxen – sogenannte Bear Canisters – kaufen, die einen bestimmten Drehverschluss haben, den der Bär nicht aufbekommt. Diese Boxen deponiert man dann mindestens hundert Meter vom Zelt entfernt auf dem Boden. Der Nachteil: die Teile sind schwer und haben nur begrenzt Platz. Aber was willste machen. Besser als Bärennachtisch sein.

Die ersten Seen liegen in Wiesen eingebettet. Der Himmel ist immer mal wieder bedrohlich schwarz, was die Gräser um uns herum in der Sonne besonders golden leuchten lässt. Überhaupt: alles ist voller Farben. Die Seen mal dunkelblau, fast violett, dann hellgrün und beinahe orange. Die Alpenwiesen durchsetzt mit gelben Blättern, die Berge grau, manchmal rot-braun mit weißen Schneefeldern auf den Spitzen. Es ist August. Und es liegt ein unglaublicher Friede über dieser Landschaft, in der nicht betoniert, gefällt, gebaut und geklöppelt wird. Ein Stück Erde, das wir Menschen einfach mal in Ruhe gelassen haben, wo wir einfach nur Besucher sind, die sich den Gegebenheiten anpassen müssen und nicht umgekehrt.
Nach einer Weile steigt der schmale Weg an und führt über große Steinbrocken über einen Sattel und – wow! Von oben blicken wir ins nächste Tal, in dem eine große, knallbunte Fläche voller Blumen zu einem langgestreckten blau-grauen See hinabfällt. Wenn ich mir als Kind das Paradies vorgestellt habe, war es immer voller Bäume und Blumen gewesen. Fast genauso wie hier. Ich vergesse beinahe, auszuatmen. Dann wandern wir hoch über dem Ufer des Sees entlang, streifen Moose und die letzten Tannen, bevor die Bäume sich lichten und nur noch blanker Fels und hochalpine Wiesen vor uns liegen. Ein Fluss fällt in Kaskaden von einem See in den anderen. Schmetterlinge flattern zwischen den immer dichter stehenden Blumenteppichen hin und her. Violette Astern, gelbe Arnika, rote Paintbrushes,... es leuchtet wie kleine Laternen in einem Miniaturwunderland.

Dann erreichen wir einen See, der wie in einer Steinschale zu liegen scheint. Der Boden um ihn herum einigermaßen eben. Ein guter Ort, um sein Zelt aufzuschlagen. Also machen wir das. Anschließend ziehen wir mit dem Wasserfilter los zum Ufer und beschaffen uns unser Trink- und Kochwasser für die Nacht. Dann sitzen wir einfach da. Auf einem Stein. Es ist vollkommen still bis auf etwas Wind. Langsam wird es immer dunkler. Da sind nur wir und die Berge. Es ist wie Meditation, ohne zu meditieren. Ich bin ganz bei mir und spüre die Nacht hinter dem Horizont, wie sie aufsteigt wie eine Flut. Auf einmal glimmt ein pinker Streifen über den Bergspitzen zwischen den dunkelblauen Flauschwolken. Es ist beinahe etwas unheimlich. Durch ein winziges Loch in der Bewölkung dringen mit aller Kraft alle Farben des Sonnenuntergangs – und für wenige Minuten glühen die Bergkanten in feurigem Orange. Ich habe schon viel gesehen, aber so etwas noch nicht. Es ist, als wäre es Tag, mitten in der Nacht. Aber nur für einen ganz kurzen, magischen Moment.

Am nächsten Morgen lassen wir das Zelt zurück und wandern zu unseren letzten zwei Seen auf der Route mit leichtem Gepäck. Wie surreal dieses Meer an Blumen hier oben zwischen dem nackten Fels ist. An einer Stelle liegt sogar noch etwas Schnee. Da muss ich hin! Ich buddele gerade einen Schneeball zusammen, als es in unmittelbarer Nähe rauscht. Als ich aufschaue, sehe ich einen Felsbrocken von der Größe unserer Trekkingrucksäcke über eine schmelzende Schneekante rutschen und mit einem dumpfen Schlag rund drei Meter tiefer auf den Boden fallen. Nervös lasse ich den Schneeball fallen und renne weg. Heidewitzka. Nicht alles ganz so harmlos hier im Paradies.
Dann setzen lehnen wir uns am See-Ufer – weit weg von potenziellem Schnee und Erdrutsch – an einen Stein und mein Mann liest aus unserem aktuellen Buch vor. Wir lesen oft gemeinsam. Er laut und ich höre zu. Ich schaue hinauf in den Himmel, an dem sich blaue Felder und dunkle Wolken duellieren. Zwischendurch regnet es einmal kurz. Wir sind mittendrin. In der Wildnis, weit weg von allem und doch genau da, wo alles ist: einer der schönsten Treks der Welt.
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