Am Abgrund von Fjorden und Gletschern – Roadtrip Norwegen Süden.

22. Juli 2023

Trolltunga Wanderung, zelten, Norwegen
Auf der Spitze der Trolltunga

Kühle Bergluft strömt in meine Lungen. Ich atme tief ein und dann für eine lange Weile gar nicht. Gänsehaut stellt sich auf meinen Armen auf, während ich mich langsam mit dem Bauch flach auf den Stein lege und mein Gesicht über die Abbruchkante des Felsens hebe. Da ist nichts. 700 Meter lang in die Tiefe nichts. Ganz unten dann ein aquamarinblauer Fjord. In der Ferne Schnee auf Gipfeln. Aber hauptsächlich Nichts.

Ich liege auf Norwegens Trolltunga – der Trollzunge. Zehn Kilometer hin und zehn Kilometer zurück muss man wandern, um dort hinzukommen. Wir haben unsere Trekkingrucksäcke mitgenommen und übernachten hier in unserem Zelt. Nee, nicht direkt auf der Zunge, sondern einige Meter daneben. Hell no, als ob ich sonst ein Auge zubekommen würde!

Ganz langsam stehe ich wieder auf und bewege mich vom Abgrund des Nichts weg. Irgendwann wird diese Felszunge abbrechen. In zehntausen Jahren. Oder in zehn Minuten. Warum muss ich ausgerechnet jetzt so einen Scheiß denken?

 

Wir sind auf einem Roadtrip durch den Süden Norwegens. Dem Land der Fjorde und Klippen, der surrealen Bergformationen und Trolle.

Wir stehen um 3:45 Uhr auf, um auf einen Predigtstuhl zu klettern, campen in der Wildnis und steigen mit Eis-Axt auf einen Gletscher. Kommt mit uns auf eine Reise, bei der man immer wieder vergisst, zu atmen.

Wanderung auf den Preikestolen um 3:45 Uhr

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Auf dem Weg zum Preikestolen früh morgens

„Boah Kacke, ab zehn Uhr Gewitter und danach den ganzen Tag Starkregen!“ Ich werfe mein Handy mit der Wetter App aufs Sofa. Wir sind in Stavanger und haben eine Wanderung zum Preikestolen, dem Predigtstuhl, geplant. Ein acht Kilometer langer und steiler Rundweg zu einer Klippe, die 600 Meter hoch wie abgeschnittenes Brot über dem Lysefjord aufragt. Wanderzeit rund fünf Stunden. Oder für Norweger zwei.

Wo immer wir Norweger treffen, bekommen wir völlige Fantasiezahlen, wenn es um die Dauer von Wanderungen geht. Dann stapfen sie zwei Meter groß mit hundert Kilogramm Muskelmasse und ʻner Wasserflasche in der Hand an einem vorbei – zweimal – während man schwitzend auf einem Stein Pause macht.

 

Mein Freund und ich überlegen. Dann hab ich die Idee: „Ist es nicht eh die ganze Zeit hell in Norwegen im Sommer? Wir können doch einfach um vier Uhr aufstehen und die Wanderung vor dem Unwetter machen!“ Ich bin der Anti-Frühe-Vogel. Der frühe Vogel gehört mit Wasser und Brot weggesperrt. Aber ich will unbedingt auf diese Wanderung gehen. Also geht um 3:45 Uhr der Wecker.

Elefantenfelsen, Sonnen-Kino und bedrohliche Windböen

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Fast ganz allein auf dem Preikestolen - mit Abstand zur Kante

Im Morgenlicht scheinen die Bäume auf den Hügeln unter uns mit Blattgold verkleidet zu sein. Wir klettern über dicke Felsen von der Größe eines Baby-Elefanten (Norweger nennen es „kleine Stufen“). Immer höher geht es Richtung Preikestolen. Der Fels soll tagsüber extrem überrannt sein. Jetzt ist es fünf Uhr morgens und wir sind fast allein. Zwischen Holzplanken und Marschland, steilen Anstiegen und einem Plateau mit Birken tut sich in bläulich-silbernem Licht ein unglaublicher Anblick auf: Der Lysefjord liegt im Scheinwerferlicht unzähliger Sonnenstrahlen, die durch eine puffelige Wolkendecke gebrochen werden. Ich hüpfe aufgeregt herum – was für ein Naturkino!

 

Als wir um die letzte Ecke biegen, überlege ich, ob ich mich trauen werde, ganz nah an die Kante des Preikestolen zu treten. Dann packt mich eine eisige Windböe und ich taumele ganz kurz unkontrolliert durch die Gegend, mit Blick auf das Fjordwasser hunderte Meter unter mir. Zum Glück hat mein Freund das nicht gesehen. Ich tu so, als wäre nichts gewesen, während mein Herz rast.

Mein Wunsch, ganz spektakulär am Rand des Preikestolen zu stehen, ist urplötzlich meinem Wunsch nach ganz unspektakulärem Überleben gewichen. Ich bin klein und leicht und das Felsmoppet sieht auch drei Meter von der Kante entfernt gut genug aus.

Puh. Mit leicht wackeligen Knien geht es gegen halb acht wieder runter, wo uns eine Völkerwanderung entgegenkommt. Hä, haben die keine Wetter-App?

Um Punkt zehn Uhr, als wir am Parkplatz die Autotür zuschlagen, bricht die Sturzflut los. Der frühe Vogel bekommt heute ein besonderes Dankeschön!

Wanderung zur Trolltunga an zwei Tagen mit Zelt

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Eine traumhafte Wanderung - die gesamte Strecke ist atemberaubend

Dunkelgrau wie eine Kathedrale in Ruinen erscheinen die Felswände um den Ringedalsvatnet See, nachdem wir durch ein Schneefeld auf einer Hochebene gewatet sind. Zwanzig Kilometer lang ist der Weg zur Trolltunga – hin und zurück – vom höchstgelegenen Parkplatz P3 aus. 28 Kilometer für alle, die am tiefergelegenen P2 starten. Wir treffen ein Paar aus Finnland an P2. „Waren das dreißig Kilometer?“, fragt der Mann. „Nee, nur achtundzwanzig“, erwidert seine Frau und lacht. Sie machen den Trail an einem Tag. Läuft bei den Skandinaviern. Ich fühle mich wie Forever 63, als wir an P3 für unsere zweitägige Wanderung starten.

 

Auch wenn die Trolltunga fast so touristisch ist wie der Preikestolen und man um die Mittagszeit manchmal bis zu zwei Stunden anstehen muss, um ein Foto auf der Felszunge machen zu können, ist der Trail einer der szenischsten und fantastischsten Wege, die ich je gewandert bin. Gletschersteine spiegeln sich im unendlichen Blau des Sees, Berge fallen schroff und gigantisch wie Drachenbeine ins Wasser, fluffige Wildblumen tanzen im Wind und raue Klippen sind mit weichem Gras überzogen.

Das finnische Paar spaziert an uns vorbei und winkt. Zweimal.

Der Blick ins Nichts – fast wie Fliegen

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Auf der Trolltunga - fast wie fliegen

Gegen 15 Uhr sind wir da. Meine Füße glühen und ich könnte wahrscheinlich Räucherschinken in meinen Schuhen herstellen. Wir bauen unser Zelt etwa hundert Meter von der Trolltunga entfernt hinter einem Hügel auf. In Norwegen gilt das Jedermannsrecht, was einem erlaubt, beinahe überall legal wild zu campen. Die Liebe und der Respekt gegenüber der Natur gehören in Norwegen zur Identität. Deshalb hat jeder gesetzlich das Recht auf die freie Nutzung von Natur – und man sieht nirgendwo Müll oder Dreck. Beeindruckend und schön, zu sehen, dass sowas funktionieren kann.

 

Als es Abend wird, verschwindet der Strom an Tageswanderern wie Krabben, die von einer Welle ins Meer gespült werden. Auf einmal ist es still an der Trollzunge. Wir laufen vom Zelt aus durch das Grasland auf der Hochebene, vorbei an spiegelglatten Teichen und kleinen und großen namenlosen Wasserfällen. Dann wage ich mich raus auf den überhängenden Felsen. Anders als beim Preikestolen ist hier kein Wind. Das macht mich mutiger. Ich stelle mich auf die Spitze, dann lege ich mich hin und schaue runter ins Nichts. Mein Magen fährt Porsche um drei Uhr nachts auf der Autobahn. Dann setze ich mich hin und lasse meine Füße in das Nichts baumeln. Für einen Moment fühlt es sich an, wie fliegen. Wie Paragliding. Bis ich an Kontinentalplattenverschiebung denken muss und daran, dass selbst der massivste Berg nicht für immer steht. Zurück zu den Wasserfällen, zurück zum Zelt. Jetzt erstmal ʻn Nudelsalat.

Gletscherwanderung im Jostedalsbreen National Park

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Eisklettern im Jostedalsbreen Gletscher

Wo wir gerade über geologische Wunder und ihre apokalyptischen Kräfte sprechen: Seit wir in Island waren, wollte ich unbedingt mal einen Gletscher von ganz nah sehen. Das geht in Norwegen im Jostedalsbreen National Park am Gletscherarm Nirgardsbreen. Yippie! Der Jostedalsbreen ist der größte Gletscher auf dem europäischen Festland und früher konnte man ihn an mehreren Stellen besteigen. Heute sind durch die Klimaerhitzung viele Stellen zu instabil geworden und schmelzen einfach dauerhaft weg. Der Nigardsbreen ist einer der wenigen Arme, an denen man noch Gletscherwanderungen machen kann.

 

Auf die Eis-Axt, fertig los! Mit einem Guide aus Nepal, Spikes und Seilen machen wir uns auf den Weg. Vorbei an dröhnendem, türkisen Gletscherwasser bis zum Beginn des blau leuchtenden Naturwunders. Die Formation sieht wie geschlagene Sahne aus, in der ein Troll blaue Kerzen angezündet hat. Wie Ameisen wirken wir Menschen vor der Masse aus Eis. Krass, wie klein wir sind und was für einen zerstörerischen Einfluss wir auf richtig große Dinge in der Welt haben.

Ich fühle eine große Ehrfurcht und Bescheidenheit, als wir auf den Gletscher steigen. Überall sind gähnende Spalten, Löcher und knirschende Eiskörner. Ein Gletscher ist wie ein Fluss, der sich sehr langsam bewegt, stand auf einer Tafel im Museum im Tal.

Als wir oben stehen, fällt mein Blick langsam über die Eismasse. Wie wunderschön, dass wir das erleben dürfen. Nicht nur vom Fernseher oder Youtube aus, sondern in echt. In aller Schönheit, Erhabenheit und mit ganz vielen prickelnden Emotionen – ganz voran Freude und Dankbarkeit.


Drei andere Orte, die wir in Südnorwegen gesehen haben:

Oslo

Eine super weltoffene Stadt, in der man das Motto „Come as you are“ sofort spüren kann, wenn man aus dem Bahnhof tritt. Sowas habe ich sonst nur in Teilen von Berlin erlebt. Besonders spektakulär ist die Oper direkt am Wasser, die wie ein versunkener Eisberg aufragt und der man 24 Stunden lang kostenlos aufs Dach steigen kann. Den Skulpturenpark Vigeland fand ich nicht wirklich sehenswert, denn die Skulpturen sind alles dicke, fleischig aussehende Menschen aus Stein – und ich finde Menschen einfach generell nicht so geil. Was wäre mit Katzenskulpturen? Außerdem besitzt Oslo den „Schrei“ von Edvard Munch in einem fetten Munch Museum mit drölfzig Etagen direkt neben der Oper. Die Ausstellung war klasse gemacht und lohnt sich total!

Stavanger

Hier sind wir eigentlich nur hin, weil das Wetter zu scheiße war, um wandern zu gehen. Eine richtig gute Entscheidung! Stavanger hat eine total bunte Innenstadt mit Street Art, einen kleinen Hafen und eine weiße Altstadt mit Holzhäusern aus dem 18. und 19. Jahrhundert mit idyllischen Rosengärten. Seltsamerweise war sie auf der Karte mit einem Wort gekennzeichnet, das aussah wie „gammel“. Dann hab ich rausgefunden, dass das norwegische „gamel“ auf Deutsch „alt“ bedeutet. Auf jeden Fall eine richtig schöne Kleinstadt für einen Nachmittag.

Geirangerfjord

Nö. Der Fjord an sich war echt schön, aber auch nicht schöner als viele andere Fjorde, die wir gesehen haben. Die Stadt Geiranger ist von Kreuzfahrttouristen belagert und die klobigen Schiffe ruinieren den Blick von der Stadt auf den Fjord. Die Stadt selbst ist unspektakulär und besteht hauptsächlich aus Souvenirbuden, hässlichen Betonhotels und Wohnmobilstellplätzen. Sehenswert war die Kunstgalerie Geiranger Galleri mit intensiven Malereien von Berglandschaften. Nächstes Mal würde ich gar nicht erst in die Stadt fahren, sondern oberhalb des Fjords wandern gehen.



Kommentare: 1
  • #1

    Pepi Bertsch (Sonntag, 23 Juli 2023 09:38)

    Schöne Sarah,
    Zum Pferdestehlen…..

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