Weiß irgendjemand noch, wie es war, wenn man von einer Party, Disco oder sonstigen Hölle nach Hause kam, den Kopf unterm Arm, die Augen on fire und so ein Summen im Ohr? Ich habe herausgefunden, dass man dafür gar nicht fett feiern gehen muss, sondern einfach nach Neuseeland fliegen kann. Zwölf Stunden von Frankfurt bis Singapur und dann nochmal zehn Stunden von Singapur bis Christchurch. Irgendwann am 31. März eingestiegen, durch ein Wurmloch von elf Zeitzonen gebeamt und am 2. April am anderen Ende der Welt wieder ans Tageslicht gekommen. Natürlich morgens, damit man auch ja nicht die Idee bekommt, man könnte jetzt endlich schlafen.
Ich fühle mich wie eines dieser Holzspielzeuge, deren Gliedmaße durch Fäden auf Spannung stehen und die vollkommen zusammenklappen, wenn man den Knopf eindrückt. Als ich aus dem Fenster sehe, erkenne ich buntes Herbstlaub. War es nicht März, als wir losgeflogen sind? Alter, waren wir so lange unterwegs?
Quatsch natürlich. Neuseeland liegt auf der Südhalbkugel, wo die Jahreszeiten diametral zu denen auf der Nordhalbkugel stehen. Immerhin scheine ich noch zu wissen, was diametral ist.
Kurz darauf sitzen wir im Auto und fahren fröhlich auf der linken Seite ans Ende der Südinsel. Komm mit zu den hängenden Wäldern des Fiordland National Parks, zu roten Seen, verschwindenden Gletschern und zu einem Ort, an dem die Milchstraße leuchtet wie ein Meer aus Glitzer. Ach ja, und dann ist da noch die Sache mit dem Scheibenwischer.
Wie ein hundertjähriger Uhu hocke ich mit verkrampften Uhu-Händen und Jetlag oberdeluxe hinter dem Lenkrad unseres Mietwagens. „Links eng, rechts weit“, murmele ich, um mir selbst einzuschärfen, wie ich jetzt abbiegen muss. Dann kommt auf einmal ein Kreisverkehr mit zwei Spuren. Huiii, im Uhrzeigersinn rein… aaaaah, wie komme ich da jetzt wieder raus, schnell blinken… aaaah, wieso geht jetzt der Scheibenwischer an?!
„Are you okay?“, fragt mein Freund, der sich seltsamerweise am Türgriff festhält.
Ich lache hysterisch, während der kalte Schweiß auf meinem Nacken feine Kristalle ausbildet und ich zugleich Blutsturz habe. „Absolutely!“
Ich blicke abwechselnd auf den Blinker- und den Scheibenwischerhebel. Sag nicht, das haben die jetzt auch noch vertauscht? Haben sie.
Die nächsten Stunden fahren wir fröhlich scheibenwischend um die Ecken (ratet, was passiert, als es anfängt, zu regnen…). Als wir abends 500 Kilometer weiter südlich in Queenstown ankommen, ist unsere Contenance weitestgehend wiederhergestellt. Man gewöhnt sich an den Linksverkehr. Wirklich. Hab ich vor fast zehn Jahren in Irland schon mal geschafft, schaffe ich jetzt wieder. Zwinkerblinker.
Queenstown ist als Abenteuerstadt bekannt. Rafting, Zipline, Tandemsprung. Da wir das alles schon mal anderswo gemacht haben, fahren wir gleich noch ein Stück weiter in die Stadt Te Anau. Ganz in der Nähe liegt der Fiordland National Park. Ich bin aufgeregt. Einer der bekanntesten Fjorde heißt Milford Sound.
Wahrscheinlich fahren wir da mit einem Boot in eine Schlucht und jemand trompetet in ein Horn, damit es ein Echo gibt. Vielleicht war ich auch nur zu oft am Königssee in Bayern, wo jemand mit Trompete das siebenfache Echo von den Felswänden hervorzaubert.
Jedenfalls finde ich auf der Fahrt zum Sound heraus, dass Sound ein geographischer Begriff ist, der Tal, das von einem Fluss überflutet wurde bedeutet. Keine Trompeten und Fanfaren. Bin froh, dass ich niemanden laut gefragt habe.
Fast zwei Stunden lang fahren wir von Te Anau zu der abgelegenen Stelle, an der der Fjord-Sound liegt. Durch blaue Täler, Ebenen mit Gräsern, einen großen Tunnel, ein riesiges, steinernes Tal, vorbei an türkisen Flüssen und Spiegelseen. Woooah. Allein die Anfahrt hat sich schon gelohnt!
Mit einer kleinen Fähre geht es dann raus auf den Sound-Fjord. Am besten ist man früh da, um den mittäglichen Busladungen zu entgehen. Busladungen bedeuten viele Menschen und darauf komm ich nicht klar. Viele Kiwis hingegen wären okay.
Die gesamte Schlucht sieht so aus, als wäre Norwegen über Nacht durch tektonische Verwerfungen in den Tropen gelandet. Massive, graue Felsen ragen aus dunklem Wasser. An den Wänden sprießen Farne, Gräser, Lianen, Moose und Bäume. Vollkommen surreal.
Am Ende fahren wir ganz nah an einen der Wasserfälle heran, die von der Klippenkante stürzen. „Sarah, you gotta come real close!“, ruft mein Freund. Dann verschwindet er auf dem Deck in einer Wolke aus Gischt.
Am nächsten Tag wollen wir in dieser unglaublichen Landschaft unbedingt noch wandern gehen. Wir entscheiden uns für den Trail zum Key Summit. Gipfelsturm und so.
„Da wäre auch noch ein Trail, der Knob Flats heißt“, merke ich an. „Der ist bestimmt pott-flach. Für Senioren!“
Mein Freund schaut mich schräg an. „Du weißt schon, wer von uns beiden die Autoschlüssel hat und wie weit wir von der Stadt entfernt sind?“
Zuerst steigen wir durch einen schon wieder tropisch aussehenden, aber eiskalten Wald. Ich ziehe mir sogar Handschuhe an. Ist hier Herbst, oder was? Ach ja…
Kurz darauf durchbrechen wir die Baumgrenze und auf einmal knallt die Sonne auf uns runter. In Neuseeland brennt die Sonne samt gefährlichem UV-Licht immer gleich wie verrückt – wegen der klaren Luft und wegen des Ozonlochs. Ich pfeffere mir eine Tonne Sonnencreme ins Gesicht. „My ghostly friend“, kommentiert mein Freund meine danach übertrieben dick weiß eingecremte Haut. Egal, vielleicht liegt ja noch Schnee auf dem Gipfel, dann kann ich mich tarnen und ihm heimlich die Autoschlüssel klauen.
Oben liegt kein Schnee. Aber ein paradiesischer, kleiner Bergsee mit einer perfekten Spiegelung. Es ist so malerisch, dass ich das Gefühl habe, jemand hat eine Fototapete aufgehängt und das ist alles gar nicht real.
Ein paar Tage später sind wir am Aoraki/Mount Cook National Park.
„Woooahoha!“, rufe ich, als wir dem massiven Berg im Abendlicht näherkommen. Das ist Maori-Sprache und bedeutet Heilige Scheiße, ist das schön! Quatsch natürlich. Doch der Mount Cook sticht mit seiner Form und seinen 3700 Metern als höchster Berg Neuseelands mindestens so eindeutig heraus wie das Matterhorn in der Schweiz.
Außerdem führen zahlreiche Wanderwege zu Seen in allen Farben. Am kommenden Morgen ächzen wir endlose Stufen hinauf zu den Red Tarns. Die roten Teiche haben im eigentlichen Sinne kein rotes Wasser, sind aber mit rotem Seegras bewachsen. Im Hintergrund thront Mount Cook. Sonst wäre es ja auch nicht surreal-schön genug.
Doch Neuseeland ist nicht nur außerirdisch schön, sondern zeigt auf harsche Weise, was wir im Begriff sind, zu verlieren. Im wieder brutzelnden Sonnenlicht schauen wir kurz darauf auf den Tasman Gletscher. Zwar sieht der See am Ende des Gletschers wunderschön seidig-blau aus, doch ich sehe auch die lange, schwarze Steinwand, an der der Gletscher einst entlanglief und wo er nun durch die Klimaerwärmung dauerhaft abgeschmolzen ist.
Ich schätze, dass der Gletscher wohl 1850 mal bis dorthin gereicht hat. Als ich die wissenschaftlichen Tafeln sehe, wird mir anders: Noch bis 1990, ein Jahr bevor ich geboren wurde, war hier kein See, sondern Eis. In der kurzen Zeit, in der ich lebe, sind zwei Kilometer verschwunden. Ich muss an die anderthalbjährige Tochter meiner besten Freundin denken und an das, was sie alles nicht mehr zu sehen bekommen wird. Wie schnell das alles geht. Wie wir zusehen. Puh.
Als wir abends aus unserer Hütte treten, erinnere ich mich daran, dass der Aoraki/Mount Cook National Park Teil des Aoraki Mackenzie International Dark Sky Reserves ist. Neuseeland hat wegen seiner Abgeschiedenheit von anderen Kontinenten einen sehr klaren und damit auch sehr dunklen Himmel. Besonders der Mount Cook gehört zu den besten Orten auf der Welt, um Sterne zu sehen.
Als wir hinauf in den Himmel schauen, muss ich zweimal hinsehen, um zwischen den Milliarden weißen Sternen einen dunklen Fleck Himmel zu erkennen. Es ist nicht das erste Mal, dass ich die Milchstraße sehe, aber hier blendet sie einen fast. Eine schier unfassbare Menge an Sternen steht über unseren Köpfen, als hätte jemand eine Ladung Glitzer ausgekippt. Mittendrin das Sternbild vom Kreuz des Südens. Das wollte ich immer schon mal sehen – und hier ist es. Wahnsinn, wenn man sich vorstellt, wie Seefahrer bei der Entdeckung von Ländern wie Neuseeland nach Sternbildern und Wind gesegelt sind, ohne wirklich zu wissen, was sie erwartet. Nachdem ich ein paar Fotos gemacht habe, packe ich meine Stirnlampe, die Kamera und das Handy weg und lege mich einfach mit dem Rücken auf einen großen Stein. In Momenten wie diesen braucht man keine Technik und keine Worte. Es ist einfach nur atemberaubend schön.
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