„Haha, Tag eins und es regnet mega – how very british!“, rufe ich fröhlich, während ich mir in der Pension in St. Bees direkt an der Küste der Irischen See meine Regenhose anziehe. Wir wollen in drei Wochen über 300 Kilometer auf dem Coast to Coast Trail quer durch England wandern. War die Idee von meinem Freund. Wollte er immer schon mal machen – ʽne Fernwanderung. Find ich an sich ja auch cool, aber nach meinem Dünken hätten wir das auch wo machen können, wo es nicht arschkalt ist und dauernd pisst. Naja.
Wenigstens wird das chillig. Soʽn paar englische Wiesen und Hügel, das schaffen wir mit links. Das wird sicher wie ein Spaziergang, vor allem, nachdem wir neulich noch in den Bergen Norwegens waren.
Als wir nach den ersten fünf Kilometern mit einer blutenden Kopfwunde am Strand sitzen und ich mich vor Panik am liebsten ins Meer stürzen würde, bin ich mir allerdings nicht mehr so sicher. Und da haben wir noch nichts von dem Gebirge und den Bakterien geahnt.
Unsere erste Woche auf dem Coast to Coast Trail hat direkt mal hart angetestet, ob wir wirklich Fernwander-Material sind.
Also lasst es uns herausfinden.
„Streik? Die scheiß britische Bahn streikt ausgerechnet morgen, wenn wir in den Norden zum Startpunkt des Wanderwegs fahren wollen?“, rufe ich und werfe mein Handy in unserem Londoner Hotel aufs Bett. Streik. Alter, bin ich in Germany, oder was?
Machste nix. Am nächsten Tag tigern wir zur Euston Station in London, um zu sehen, was geht – oder auch nicht. Wenn wir nicht wie geplant mit der Wanderung loslegen können, sind wir mit unseren 19 vorgebuchten Unterkünften am Arsch. Oder müssen am ersten Tag einfach mal 35 Kilometern hinterherlaufen. Haha. Wir haben uns eigentlich Tagesetappen zwischen 14 und 22 Kilometern zusammengestellt, weil wir eben nicht wie irre durch die Landschaft rasen, sondern was sehen wollen. Klappt ja hervorragend.
Der erste Zug – nach Carlisle – fährt tatsächlich. Doch der Anschlusszug wird bestreikt. „In den Norden fährt von hier aus heute gar nichts. Die streiken alle“, informiert uns ein Beamter. Ob es Busse gibt? Er zuckt mit den Schultern. Ihm doch egal. Wir gehen erstmal was essen und erkundigen uns nach Bussen oder Taxen nach St. Bees. Busse, keine Ahnung. Ein Taxi mindestens 100 Pfund. Leck mich am Arsch.
Als mein Freund dann noch erfolglos das Klo im Restaurant sucht, hab ich keinen Bock mehr und erzähle zwei völlig fremden Frauen am Tisch neben uns, wie doof unser Tag bisher war. Überraschenderweise wissen die beiden Damen von einem Bus, den wir nehmen können. Nur drei Stunden, zwei holprige Busverbindungen und doch noch ein Taxi später sind wir endlich in St. Bees am Hotel. Am Startpunkt unserer Wanderung. Hat auch nur 12 Stunden gedauert. Danke, National Rail.
„Kann ja nur besser werden“, sage ich am nächsten Tag. Es regnet in Strömen, aber grundlosen Enthusiasmus kann ich. Außerdem haben wir Regenklamotten dabei. Ha! Die ersten Kilometer des Coast to Coast Trails führen an Klippen entlang der Küste. Es ist wild und wunderschön. In unserer App steht, dass man gleich zum letzten Mal runter ans Meer kann, bevor der Pfad landeinwärts führt.
„Lass das machen!“, rufe ich gegen den Sturm.
Der Weg von den Klippen runter ans Wasser ist voller glitschiger, roter Steine. Ich schaue gerade auf meinen Wanderstock, als mein Freund aufschreit und im nächsten Moment auf dem Boden liegt. Und liegen bleibt. „Ist alles in Ordnung?“, rufe ich. Ist nicht das erste Mal, dass wir irgendwo abkacheln. Er antwortet nicht. Dann sehe ich den dicken Stein direkt hinter ihm. Er ist ja wohl jetzt nicht mit dem Kopf da aufgeschlagen?
Ist er. Als ich näherkomme, sehe ich, dass sich unter seinem Kopf eine Blutlache ausbreitet.
„Ach du Scheiße“, brülle ich und furchtele wild und sinnlos mit den Armen, nur um fast neben ihn zu fallen. „Du blutest mega!“
Ich muss doch einen Notarzt rufen, oder? Wie soll der hier unten hinkommen, wo
keine Straße weit und breit ist? Haben wir überhaupt ein Signal? Wo ist mein Erste-Hilfe-Wissen? Mein Kopf ist leer, ich habe Panik. Was, wenn er jetzt bewusstlos wird oder
verblutet?!
Ich zerre einen Schal aus meinem Rucksack und mein Freund schiebt sich seine Kapuze vom Kopf, um mit dem Schal Druck auf die Wunde auszuüben. Das Blut läuft ihm schon am Hals runter. Ich will heulen und ausrasten. Er ist relativ gefasst. „Wir warten jetzt, bis das aufhört“, sagt er, als würde er über den Landregen sprechen.
„Und wenn nicht?“, schreie ich, obwohl ich direkt neben ihm hocke.
Er grinst und zuckt mit den Schultern. Blödi.
Nach ein paar Minuten hört es tatsächlich auf. Er möchte weitergehen.
„Aber du sagst Bescheid, wenn dir schwindelig oder schlecht wird!“, sage ich drohend. Die nächsten Kilometer laufe ich mit Pudding in den Knien. Was für ein Schock.
Für den Rest des Coast to Coast Trails hat mein Freund eine Narbe in Form eines Krähenfußes am Hinterkopf. Sonst ist aber alles gut.
Bis wir auf einmal mitten im Gebirge sind. Berge in England, hä?
Ja, im Lake District National Park, einem von drei Nationalparks auf dem Fernwanderweg, sind tatsächlich echte Berge. Klar, nicht unbedingt das Matterhorn, aber mit 700 Metern doch ganz schöne Klötze, wenn man von Normal-Null kommt. Uff.
Einmal klettern wir sogar mit Händen und Füßen bergauf. Das macht besonders Spaß, wenn man einen fetten Rucksack aufhat. Denn alles, was wir in den drei Wochen brauchen – von der Zahnbürste bis zur Winterjacke – tragen wir auf unseren Rücken.
Auf der Spitze eines Berges rufe ich „Juhu!“ und breite meine Arme aus. Die Aussicht ist gigantisch! Mein Freund schüttelt den Kopf. „Sarah, du weißt nicht, wie man das macht“, sagt er. Dann stellt er sich neben mich und schreit aus voller Kraft: „Yeehaw!“
Irgendwo bröckelt jetzt eine Steinwand ins Tal. Ganz bestimmt.
Immer wieder treffen wir auf dem Weg andere Wanderer, die ebenfalls auf dem Coast to Coast Trail unterwegs sind. Zwei davon sind Sue und Glyn. Ein paar Mal übernachten wir sogar in derselben Unterkunft und reden über den Weg, wo wir herkommen und was einem unterwegs für Gedanken kommen.
Zum Beispiel, dass man zu Fuß für Strecken einen ganzen Tag braucht, die man mit dem Auto in 15 Minuten fahren könnte. Dass Menschen ganz früher wochenlang Briefe und Botschaften über Gebirge getragen haben, um mit anderen zu kommunizieren. Dass unser Leben so schnell geworden ist. Jeder erwartet immer sofort eine Antwort und ständige Erreichbarkeit. Das Wandern ohne Signal, ohne Laptop und Mails entschleunigt und macht einem bewusst, in was für einer lauten, rasenden Schleudertrommel wir doch im Alltag oft sitzen. Und für was?
Nach etwa fünf Tagen müssen wir den Trail unterbrechen. Ich habe fast seit Beginn unserer Wanderung auf dem Coast to Coast Trail Schmerzen im Unterleib, die langsam in den Rücken ausstrahlen. Außerdem muss ich dauernd pinkeln. Ein freies Medikament gegen Blasenentzündung aus der Apotheke hat nur mäßig geholfen. Toll. Nierenentzündung, ich komme.
Als ich vor Ort morgens zum Arzt will, stelle ich fest, dass keiner eine freie Sprechstunde hat. „Das geht nur mit Termin“, sagen gleich drei Praxen, zu denen wir mit Taxen fahren müssen. Ja sorry, ihr Nüsse, ich wandere hier durch und konnte leider nicht schon vor ʽner Woche hellsehen, dass ich Schmerzen bekommen würde. Außerdem sei ich keine englische Staatsbürgerin, das sei eh kompliziert und ginge jetzt nicht mal eben so. Ausrast.
Nach einem komplett verschwendeten Tag, 50 Pfund für ein Taxi zum nächsten Krankenhaus – dort sind sie verpflichtet, einen anzunehmen – und später nochmal sieben Kilometern zu Fuß, habe ich endlich ein Antibiotikum am Start.
Wir haben etwa ein Drittel des Weges geschafft. 100 Kilometer. Trotz allem. Wir liegen auf unserem Bett in einem Bed & Breakfast und schauen aus dem Fenster in der Dachschräge.
„Kann ja nur besser werden“, sagt mein Freund.
Ich will ein Kissen nach ihm werfen. Aber hoffentlich hat er
Recht.
Den zweiten Teil zu unserer Fernwanderung durch England gibt’s hier: Durch Sümpfe, Regen und lila Heide zum Meer – Coast to Coast Trail England II.
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