Massive Klippen kesseln die Stadt ein, in der sich weit unten ein grünlicher Fluss entlang der goldschimmernden Fassaden schlängelt. Über eine Brücke mit riesigen Bögen zieht ein bunter Zug dahin, der so winzig wirkt, wie eine Modelleisenbahn. Ich klettere auf die Überreste der historischen Festung, die auf dem massiven Bockfelsen thront und blicke rund 50 Meter hinunter ins Nichts. „Komm, wir machen ein Sarah-Foto“, erklärt mein Freund. Ein Sarah-Foto ist ein Foto, auf dem ich irgendwo zwischen Abgrund und Fegefeuer stehe, meine Arme nach oben reiße und grinse wie ein Kürbiskernbrötchen. Ich stelle mich auf den Rand der historischen Mauer und tue wie geheißen. Während mein Freund sein Handy für das Foto startklar macht, kommt eine ältere Dame vorbei und bekommt fast einen Herzinfarkt, als sie mich da oben sieht.
Wir sind in Luxemburg. Genauer gesagt in Luxemburg-Stadt, denn die Hauptstadt des Landes hat sinnigerweise genau den gleichen Namen wie das Land selbst. Ist denen wohl die Kreativität in die Schlucht gefallen. Es ist nur ein Kurztrip für ein paar Tage und es ist nur ein winziges Land. Aber wir mussten einfach mal raus aus dem Coronagescheiße in Deutschland. Die Wahl fiel auf Luxemburg, weil: War bei Anreise mit dem Auto komplikationslos offen.
Weshalb wir beinahe trotzdem nicht in die Stadt reingekommen sind und warum ihr echt was verpasst, wenn ihr denkt, dass Luxemburg klein und lame ist, verrate ich euch hier.
„Oh nein, du hast meine Karte kaputtgemacht!“, ruft mein Freund entsetzt, nachdem ich fröhlich mit dem Finger auf seinem Stadtplan bei Google Maps herumgewischt habe. Luxemburg-Stadt besteht aus einer Ober- und einer Unterstadt. Zwischen den beiden Teilen liegen etwa 50 Höhenmeter. Getrennt sind die Viertel durch riesige Felswände, auf die Römer und Grafen im Laufe der Zeit zusätzlich gigantische Festungsanlagen geklebt haben, um sie noch unbezwinglicher wirken zu lassen. Anscheinend waren sie sehr erfolgreich, denn wir versuchen seit einer Viertelstunde in die Unterstadt einzumarschieren. Aus touristischen Gründen. Erfolglos.
„Wir müssen die Treppen da rauf“, erkläre ich und deute diffus Richtung Felswand.
„Ich weiß überhaupt nicht mehr, wo wir sind“, beschwert sich mein Freund. „Seit du auf der Karte rumgewischt hast. Wo ist denn jetzt Norden?“
„Interessiert mich nicht, ich will bloß endlich in die Stadt rein!“, erwidere ich. Dann lachen wir.
Nach mehreren Anläufen schaffen wir es schließlich durch einen großen, bogenförmigen Einlass auf eine Kopfsteinpflasterstraße, die meine beste Freundin vermutlich als „pöckelig“ bezeichnet hätte. Keine Frage: Luxemburg-Stadt lässt sich am besten zu Fuß entdecken. Aber dann in ordentlichen Wanderschuhen.
Wir stiefeln an der Felswand entlang – dieses Mal von innen auf der Stadtseite! – und über mehrere stufenförmige Terrassen bis zum Flüsschen Alzette, das wie ein venezianischer Kanal an den historischen Hausfronten entlangströmt. Über kleine Brücken aus gelben Steinblöcken laufen wir an einem großen Marktplatz vorbei bis zur Johanneskirche, die von oben noch ausgesehen hatte wie Landschaftsdeko bei Märklin. Überhaupt wirkt die ganze Stadt wie die Kulisse bei Jim Knopf. Überall tun sich mittelalterliche Unterführungen auf, es geht hinunter und wieder hinauf, unter Torbögen längs bis zu hohen Viadukten, an plätscherndem Wasser entlang bis zu einer Bäckerei in einem windschiefen Fachwerkhaus. Hier könnte man so viele Stadtpläne zerstören, wie man wollte – die beste Art, Luxemburg-Stadt zu erkunden, ist einfach neugierig ohne Plan loszugehen.
„Wieso ist der nächste Aussichtspunkt nur zweihundert Meter entfernt?“, wundert sich mein Freund, der seine Karte inzwischen wieder hergestellt und genordet hat. Für ihn als Amerikaner ist es unfassbar, dass eine Hauptstadt so klein sein kann. Dass man überall in wenigen Minuten zu Fuß ist. Für mich ist es unfassbar, dass eine so kleine Stadt so verwinkelt und spannend sein kann, dass man auch nach vier Stunden, mehreren Höhenkilometern und diffusen Schmerzen im linken Knie noch nicht alles gesehen hat.
Nachdem wir uns in der Unterkunft etwas außerhalb erholt haben und ich begeistert die Fotos des Tages auf meiner Kamera studiert habe, machen wir uns noch einmal auf den Weg in die Oberstadt. Restaurants und Cafés haben wegen Corona bloß Take-Out, weshalb wir unser Essen abholen und im Hotelzimmer essen müssen. Aber Pizza schmeckt auch lauwarm auf einem Hotelbett, wenn man mit einem wunderbaren Menschen auf einer wunderbaren Reise ist. Falls ihr mit dem Auto nach Luxemburg-Stadt kommt, könnt ihr euren Eselskarren übrigens günstig auf dem Glacis Parkplatz abstellen. Kostet bis 18 Uhr nur einen Euro pro Stunde und ist danach sogar frei.
Leider bekomme ich auf der Suche nach einem Restaurant in der gemütlich illuminierten Altstadt mit der spektakulären Notre-Dame-Kopie eine akute Fotoattacke. Mein Freund kann mich nur haarscharf aus einer engen Gasse vor einem heranrauschenden Auto retten, während ich darauf bestehe, dass die Langzeitbelichtung aber noch nicht fertig ist. Nachdem wir noch einen gigantischen Blick über die nächtliche Unterstadt im 70 Meter tieferen Tal gewagt haben, fahren wir zu einer Pizzeria, weil wir inzwischen so einen Bärenhunger haben, dass wir nicht mehr laufen wollen. Im Hotel mampfen wir die – natürlich – lauwarme Pizza. „Ich dachte immer, Luxemburg ist bloß eines dieser kleinen L-Länder, die ihr hier in Europa habt“, sagt mein Freund. „Aber seit heute bin ich echt beeindruckt.“
Eine Stadt, die ebenfalls extrem beeindruckend am Rande eines Abgrunds liegt ist übrigens Ronda in Andalusien, Spanien. Mehr dazu findet ihr in meinem Beitrag 5 Naturwunder in Andalusien: zwischen Abgründen, Gewitter und Wüste.