Ich trete näher an das kleine Schild. Dort sind ein Berg mit Rauchfahnen und eine Person zu sehen, die wegrennt. Evacuación a Control Norte steht in beruhigenden Buchstaben darunter. Ich blicke zum Cotopaxi hinüber. Der eisige Gipfel mit den überhängenden Schneelappen hüllt sich in dunkle Wolken. Regenwolken. Hoffentlich.
5.897 Meter ist der Cotopaxi in Ecuador hoch und damit einer der höchsten, aktiven Vulkane der Welt. Ich mache Fotos. Auch von dem Schild. Mein Geheimplan: Wenn das Scheißding ausbricht, stecke ich mir die Speicherkarte in den Socken, schmeiße die schwere Kamera in die brennende Lava und renne zum Nord-Kontrollpunkt, damit ich meinem Opa später Bilder schicken kann mit der Unterschrift: „Vulkanausbruch Cotopaxi, krasser Mist, guck mal, wie ich direkt danebenstehe“.
Und das ist nicht das Einzige, was in Ecuador richtig beeindruckt. Es ist eine Nation, in der man innerhalb von einer Stunde von steppenartigem Hochland in Nebelwälder gelangt und von heißem Amazonas-Klima zu Schnee in den Andengipfeln. Genau das macht einen Roadtrip quer durchs Land so spannend. Falls man die Überholmanöver von blauen Abgas-Lastwagen auf Bergstraßen im Nebel bei zwei Metern Sichtweite überlebt.
Kommt mit auf eine Reise zu winzigen Kolibris und dicken Vulkanen, zu einem Kratersee,
einem Felsgang hinter einem Wasserfall und einer höllischen Bahnlinie.
Ich starre auf meine Offline-Karte und dann im Vorbeifahren für zwei Sekunden auf die kleine Tafel vor dem verschlossenen Tor. „Ich glaube, da war’s“, sage ich trocken.
Wir sind auf der Suche nach einer Kolibri Lodge. Seit ich es verkackt habe, in Costa Rica einen Kolibri-Garten zu besuchen, habe ich tiefe Gefühle von einem verpassten Leben. Einem Leben ohne Kolibris. Also hat mein Freund in nächtlichen Aktionen am Computer Kolibri-Orte in Ecuador recherchiert. Gefunden hat er eine besondere Lodge, wo die kleinen, gefiederten Freunde angeblich in solchen Massen auftreten wie Menschen mit schlechtem Musikgeschmack bei Helene-Fischer-Konzerten.
Allerdings ist die Lodge nicht leicht zugänglich. Absichtlich – wie sich herausstellt. Die Besitzer möchten den Ort als Geheimtipp bewahren. „Wir wollen keine Busladungen an Touristen haben. Wir möchten nur Besucher, die sich wirklich bemüht haben, uns zu finden, anzuhalten und zu klingeln“, sagt die Hausdame.
Das haben wir getan, denn nicht noch einmal kommt etwas zwischen mich und Kolibris.
Einmal im geheimen Garten, gibt es mehrere Unterstände, von denen man Futterstellen beobachten kann. Mit lautlosen, vibrierenden Flügeln kommen rote, orangene, schwarze und grüne Vögelchen angeflogen. So schnell, als wären sie kurzzeitig dort hingebeamt worden. Bevor sie genauso schnell wieder ins Nichts verschwinden. Ich bin froh, hier zu sein. Endlich Kolibris – das Leben kann weitergehen!
Alles andere als winzig ist unser nächster Stopp im Norden des Landes. Der Cuicocha Kratersee hat einen Durchmesser von drei Kilometern und in der Mitte zwei kleine, grüne Inseln. Klingt mir zu friedlich, also füge ich mal hinzu, dass sich unter den Inseln vier Lava-Dome befinden. Warm ist das Wasser trotzdem nicht – nicht, dass jetzt jemand auf falsche Gedanken kommt.
Der Name Cuicocha leitet sich entweder von Kuychikucha ab, was Regenbogensee heißt, oder von Kichwa Kuykucha. Dann wäre es ein Meerschweinchensee. In Ecuador essen Menschen übrigens gern Meerschweinchen.
Der Trail um den See führt entlang des Kraterrands. Mega Aussichten auf den See auf der einen Seite und die grüne Anden-Landschaft auf der anderen.
Wenn man nicht damit beschäftigt ist, in der dünnen Luft zu atmen. Denn der Cuicocha liegt zwischen 3.000 und 4.000 Meter hoch.
Meine Beine fühlen sich deshalb trotz diverser Ausflüge in die bayrischen Alpen so schwer an, wie die Beine der Zinnmännchen bei meinem Opa in der Vitrine. Das Gute: Wenn ich ihm keine Fotos vom explodierenden Cotopaxi schicke, kann er sich wenigstens seine Zinnmännchen angucken.
Ein paar Tage zuvor musste ich schon von einem Berg bei Quito, der zweithöchsten Hauptstadt der Welt, wieder absteigen, weil ich leichte Symptome von Höhenkrankheit hatte.
Klingt, als würde man sich ein bisschen anstellen wegen dünner Luft, doch der Scheiß ist real und kann auch gefährlich werden, wenn man einen auf John Wayne macht und trotzdem weiterwandert.
No Country for Old Women.
Apropos Cotopaxi. Dort sind wir am nächsten Tag. Ich sag ja, es liegt alles sehr nah beieinander in Ecuador. Wir fahren mit 80 an einem Schild vorbei, das 60 als Höchstgeschwindigkeit vorgibt, während die Einheimischen mit über 100 an uns vorbeidieseln. Und das meine ich wörtlich: Wenn man nicht durch völlig abgefahrene Überhol-Stunts auf einspurigen Bröckel-Straßen am Abgrund stirbt, holt man sich zumindest einen Schatten auf der Lunge. Hier pestet wirklich jedes Fahrzeug dunkle und abartig stinkende Wolken in die Luft. Aber bestimmt erreichen wir das Pariser Klimaziel trotzdem noch. 2076 oder so.
Als wir von der Panamericana auf eine kleinere Straße abbiegen, lasse ich beinahe vor Fassungslosigkeit meine Kamera fallen. Mitten in den hohen, dunkelblauen Anden, steht ein weißer Turm. Unglaublich viel größer als alles andere, mächtig und überraschend: der Cotopaxi Vulkan. Nie wieder werde ich diesen monumentalen Moment vergessen, in dem er einfach plötzlich wie eine Wand vor uns stand.
Der Cotopaxi National Park ist kostenlos [Oktober 2022] und drei Viertel der Straße im Park sind ungeteert. Da wir aber schön öfter ungeteert und ungefedert unterwegs waren, nehmen wir das Risiko in Kauf. Rumpelnd nähern wir uns der Limpiopungo Lagune. Ein See ganz nah am Fuße des Vulkans. Mitten in der Todeszone. Falls er ausbricht.
Wir haben Glück. Er bricht nicht aus und für einen kurzen Moment verziehen sich sogar die Wolken vom Gipfel. Die gelbe Steppe, die rötliche Erde des Vulkans, der weiße Schnee, der blaue Himmel – wow.
Wem das alles nicht abenteuerlich genug ist, der fährt nach Banos. Die Stadt versucht, sich mit Zip-Lining, River Rafting und Bungee-Jumping als Action-Destination zu etablieren. „Banos“ bedeutet zum einen „Toiletten“, aber zum anderen auch „Bäder“ – und davon hat das Dorf mit seinen natürlichen, heißen Quellen viele. Leider klingen die Google-Rezensionen darüber schlimmer als die über das vergammelte Hallenband aus den Siebzigern in meiner Kleinstadt-Heimat in Deutschland. Lassen wir das also mal.
Stattdessen mache ich mich auf den Weg zum Diablo Wasserfall. Alleine. Denn meinen Freund hat Montezumas Rache erwischt. Eine Erkrankung, die gern westliche Touris in Südamerika befällt und die dafür sorgt, dass man überhaupt nicht mehr von den „Banos“ wegkommt. Und ich meine jetzt nicht die Thermalquellen.
Ähnlich wie viele andere Attraktionen rund um Banos, ist auch der Wanderweg zum Diablo Wasserfall ziemlich touristisch. Verkaufsbuden überall und der Eingang ist mit einem relativ lustigen Monster geschmückt. Ich bin ja überhaupt kein Fan von künstlicher Vergnügungsscheiße. Fühlt sich immer so an wie ein Kindergeburtstag für verblödete Erwachsene ohne eigene Fantasie.
Trotzdem ist der Wasserfall sehenswert. Donnernd stürzt er in einen Kessel aus Felsen, in dem sich ein ringförmiger Regenbogen bildet.
Wenn man auf Händen und Füßen durch einen Tunnel kriecht, kann man sogar direkt hinter den Wasserfall gelangen. Mache ich natürlich. Yolo und so. Pitschnass stehe ich mit der Nasenspitze am dröhnenden Wasser. So nah war ich noch nicht mal in der Schweiz oder in Island an einem Wasserfall.
Wo wir gerade über Nasen sprechen: Ecuador hat – oder besser hatte – eine der spektakulärsten Bahnlinien der Welt. Den Devil’s Nose Train bei Alausi. Eine Bahnstrecke in einem Hang, der so steil ist, dass der Zug nur im spitzen Zick-Zack hinauf- und hinunterfahren konnte. Die Waggons fuhren zum einen Ende der Schiene, hielten dort an und fuhren das nächste Level dann rückwärts. Das wiederholte sich, bis der Zug oben oder unten angekommen war. Kurven gingen nicht.
Leider ist der Zug seit 2020 außer Betrieb. Warum, darüber haben die Ecuadorianer unterschiedliche Meinungen. Einige meinen „wegen Corona“, andere „weil die Regierung ein korrupter Sauhaufen ist“. Vielleicht haben auch Bill Gates, Ilon Musk, eine fliegende Untertasse oder der Geist von Stalin was damit zu tun. Wer weiß das schon. Jedenfalls fährt das Teil nicht.
Zum Glück kann man jedoch auf die Teufelsnase raufwandern! Der Wanderweg ist ehrlich gesagt noch spektakulärer als der Schienenverlauf, weil er sich weit höher befindet. So hoch, dass es anscheinend keine Bäume mehr gibt, denn wir brutzeln am Ende der Trockenzeit zwischen braunen Feldern unter sengender Sonne wie winzige Hotdogs in der Sahara.
Die Ausblicke sind allerdings spektakulär. Wir sehen nicht nur die Zick-Zack-Schienen von oben, sondern auch drei verschiedene Canyons, die an der Spitze von Devil’s Nose zusammenkommen.
Nicht immer klappt alles, wie geplant, aber in einem Land wie Ecuador fährt man einfach eine Stunde und schon ist man in einer anderen Welt mit tausend neuen Möglichkeiten.
Bevor wir mit dem Auto in Ecuador unterwegs waren, haben wir einen unvergesslichen Abstecher in den Dschungel gemacht. Was wir dort erlebt haben, erfahrt ihr hier: 5 Tage im Amazonas-Regenwald: Abenteuer in zerbrechlicher Welt.