Und dann ist der Weg sechs Stunden lang weg.
Wie, weg?
Ja, weg, einfach so. Vom Meer verschluckt. Aber später ist er wieder da. Hm!
Einhundert Kilometer zu Fuß auf dem John Muir Way in Schottland liegen hinter uns, als wir das Meer erreichen. Der zweite Teil des 215 Kilometer langen Fernwanderwegs führt größtenteils am Firth of Forth entlang – einem Meeresarm der Nordsee, der sich ins schottische Inland fräst. Unser Ziel: das Dorf Dunbar am offenen Meer; der Geburtsort von John Muir, Naturphilosoph, Entdecker, Schriftsteller, Erfinder, Ingenieur, Geologe – und bekannt als Vater der Nationalparks in den USA.
Aber was war das jetzt mit dem verschwundenen Wanderweg? Als wir das Örtchen Prestonpans entern, deuten die offiziellen Wegweiser alle Richtung Innenstadt. Doch durch eine Stadt zu laufen, ist meistens laut, grau und boring as fuck. „Schau mal, da ist ein parallel verlaufender Steinweg unterhalb der Stadtmauer, gleich am Meer“, schlage ich vor. Als wir den Weg betreten, ist er merkwürdig nass, glitschig und voller Algen. Dabei hat es seit zwei Wochen nicht mehr geregnet. Kurz darauf wird uns klar, dass der Pfad nur bei Ebbe existiert und bei Flut komplett überspült wird. Es ist Ebbe! Ich bin begeistert und tanze über eine Pfütze hinweg. Mein Mann schaut erstmal auf die Uhr.
Ob wir es vor der Flut geschafft haben, wie ein Zauberwald unsere Moral gerettet hat, wie ich in Wellen der Angst gerannt bin und was die Erfüllung auf dem Hügel macht, erfahrt ihr hier im zweiten Teil unseres Fernwanderberichts.
„Dort drüben führt eine Treppe zurück nach oben in die Stadt. Und da auch. Nur zur Sicherheit!“, ruft mein Mann. Es sind zwar noch mehrere Stunden, bis die Flut ihren Höchststand erreicht, aber ganz geheuer ist ihm unser temporär existierender Wanderweg nicht.
„Ach was, es ist doch noch voll Ebbe!“, rufe ich von weit hinten zurück, während ich mir ausführlich eine Schnecke am Boden anschaue.
Über die Jahre haben wir ein seltsames Wechselspiel von Overthinking und Leichtsinn entwickelt. Entweder mein Mann ist besorgt und ich bin tiefenentspannt, oder er hoppst über einen Abgrund, während ich einen Herzinfarkt kriege. Wenigstens ist fast immer einer von uns noch bei Sinnen.
Als wir den Ebbe-Flut-Weg hinter uns lassen und auf den offiziellen John Muir Way zurückkehren, muss ich schon wieder anhalten. Muscheln! Aaaaaaah! Achtzigmillionentausend!
Ich pfeffere den Rucksack in den Sand und grabe mit beiden Händen in die endlos tiefe Schicht aus bunten, fast papierdünnen Muscheln. Wahnsinn! Es klinkert und tinkert, als ich sie durch meine Hände rieseln lasse.
Der Rest des Weges führt uns immer wieder nah ans Wasser und manchmal mitten durch tiefen Sand in den Dünen. Was sich romantisch anhört, ist ehrlich gesagt harte Arbeit. Mit fettem Gepäck bei jedem Schritt die Füße samt Körpergewicht aus weichem Sand ziehen zu müssen, frisst krass Energie. Als ich gerade so richtig keinen Bock mehr habe und wir nach 13 Kilometern immer noch drei vor uns haben, biegt der Pfad plötzlich in einen Wald aus knorrigen Ahorn- und Lindenbäumen ab. Woah! Es ist, als würden meine Müdigkeit und das Blei in meinen Beinen augenblicklich abfallen. Verschlungene Äste mit hellgrünem, frühlingshaftem Blätterdach wallen um uns herum. „Second wind“ nennt man das, wenn man eigentlich erschöpft ist, aber auf einmal nochmal einen Energieschub bekommt. Was für eine schöne Überraschung nach dem ganzen Sand.
Ein paar Tage später nähern wir uns dem Dorf North Berwick. Der Firth of Forth Meeresarm hat sich weit geöffnet und das gegenüberliegende Ufer ist verschwunden. Eine ganze Zeit lang wandern wir schon durch Heide- und Dünenlandschaft mit Gräsern und windschiefen Kiefern. Außerdem hören wir das Meer. Aber die Dünen sind so hoch, dass man es nicht sieht. „The heck with it!“, rufe ich irgendwann. „Ich will jetzt das olle Meer sehen!“
Wir finden einen Zugangsweg, klettern über den Dünenkamm und mein Blick fällt auf einen weiten, goldenen Strand mit tiefblauem, schäumenden Meer. Eine weiße Welle nach der anderen brandet an Land. Ich werfe den Rucksack weg (ich glaube, das passiert häufiger), und stürme Richtung Wasser. Dann stoppe ich.
Wellen und ich haben eine seltsame Beziehung. Ich liebe das Meer, ich gehe gern schwimmen. Aber ich habe bei Stress auch immer wieder Albträume, in denen mich eine Tsunami-Welle ergreift und ich nicht wegrennen kann. Außerdem hat mich mal eine harmlos aussehende, aber plötzlich stark anwachsende Welle in Spanien unschön mit dem Gesicht zuerst in Vulkansand gehauen. Ich blicke auf das Wasser. Eine weiße Welle übertrumpft die andere. Immer wenn ich denke, jetzt könnte ich ein Stück weiter ins Wasser laufen, kommt eine besonders hohe Welle. Ich laufe hin und her und beobachte. So, wie mein Mann den Ebbe-Flut-Weg beobachtet hat. Dann lache ich auf einmal irre und renne einfach los. Mitten in die Wellen. Meine Hosenbeine werden nass, ich fuchtele mit dem Armen und lache noch mehr. Blöder Angst-Mist! Ich mach das jetzt einfach! Und es tut so gut. Nachdem ich das erste Mal in die Wellen gerannt bin, mache ich es wieder und wieder.
Als ich später meine Füße im Sand trockne, denke ich darüber nach, was für einen Spaß ich verpasst hätte, wenn ich auf den Angst-Mist gehört hätte.
Kurz vor Ende des John Muir Ways klettern wir auf einen Hügel. Der war eigentlich nur optional, aber wenn mein Mann etwas sieht, das einem Berg ähnelt, dann ist es keine Option mehr, sondern ein Muss. So stiefeln wir auf den Law Hill, der uns eine wunderschöne Aussicht über gelbe Rapsfelder, orangene Hausdächer, grüne Weiden und das hellblaue Meer gibt. Ach, Schottland!
Als ich dort oben stehe, die Hände auf dem Gipfelstein, den Blick auf einen Felsen am Horizont gerichtet, könnte ich plötzlich vor Glück platzen. In alle vier Himmelsrichtungen. Vor zweieinhalb Jahren hat mein Mann die Diagnose „Stage 4 Cancer“ bekommen. Unheilbarer, metastasierter Krebs im letzten Stadium. Die Behandlung hatte eine zehnprozentige Chance und bei Fehlschlagen war die Aussicht „vielleicht noch ein paar Wochen“. Nie werde ich vergessen, wie mein Mann fragte: „Und was passiert, wenn die Chemo nicht wirkt?“ und der Doc antwortete: „Then we are talking hospice.“
Zweieinhalb fucking Jahre später stehen wir auf einem Berg an der schottischen Küste. Unsere dritte Fernwanderung in drei Jahren. Ich bin so erfüllt, so glücklich, so dankbar, dass in mir kein Quadratmillimeter Platz ist für Hass, Verbitterung, Gejammer oder Neid.
In diesem Moment wird mir klar, wie wörtlich der Begriff „Erfüllung“ zu nehmen ist. Man ist so voller positiver Gefühle, dass nichts anderes mehr reinpasst.
Etwas, das ich jedem wünsche, der seine Lebenszeit immer noch damit verschwendet, gehässige Dinge im Internet zu posten, bösartige Kommentare abzulassen, Angst vor dem Leben zu haben und die Fehler – und Lösungen – immer bei anderen zu suchen.
Zwei Tage später stehen wir vor dem Geburtshaus von John Muir am Ende des John Muir Ways in Dunbar. 215 Kilometer einmal quer zu Fuß durch Schottland. We did it! Jedesmal fühlt es sich unwirklich an, wenn man am Ziel einer Fernwanderung angekommen ist. Am liebsten würde ich einfach weiterlaufen. Wie Forrest Gump. Und vielleicht mache ich das eines Tages auch. Das Leben ist wild und traurig und schön und nicht immer ist die Richtung des Wegweisers die, in die man am Ende geht.
I only went out for a walk and finally concluded to stay out till sundown, for going out, I found, was really going in. Nature heals and gives strength.
– John Muir
Wenn du magst, kannst du unseren Geschichten, Reisen, Fails und Abenteuern täglich auf Instagram folgen: @squirrel.sarah.
Mehr zu weiteren Wanderabenteuern findest du hier: