Einmal quer durch Schottland. Ja, jetzt hier nicht mit dem Mietwagen, sondern mit
Füßen. 215 Kilometer und 15 Tage lang sind wir auf dem John Muir Way von Küste zu Küste unterwegs; jeden Tag bei… eh, „Wind und Wetter“…? Surprise – nein! 15 Tage lang bei
Sonnenschein und beißendem Wind. Schottland ist kaputt. Oder vielleicht auch unser Klima.
Wir stehen am Startpunkt in Helensburgh. Ein kleines Dorf an der Westküste des Landes. Da der John Muir Way wesentlich unbekannter ist als der große West Highland Way, ist auch das Startschild relativ mickrig: eine Plakette an der Wand eines Häuschens, das den Charme einer öffentlichen Toilette hat. Egal, wir machen trotzdem ein Foto.
„Jetzt geht’s off!“, wispere ich leise mit meinem verwirrten deutsch-englischen Gehirn. Dann laufen wir aus der Stadt hinaus wie ein schottischer Botschafter im 16. Jahrhundert. Dick bepackt, mit einer Mission, nicht wissend, ob wir je am anderen Ende ankommen werden. Na gut, vielleicht ein bisschen übertrieben. Trotzdem wohnt jeder Fernwanderung ein Zauber inne. Der Moment, in dem man sich entschließt, in einer hoch technologisierten Zeit eine absurde Strecke einfach zu Fuß zu gehen. Der Moment, in dem man alles, was man braucht, auf seinem Rücken trägt. Der Moment, in dem man etwas loslässt, um herauszufinden, was man schaffen kann und in dem man weiß, man wird am Ziel nie dieselbe Person sein, die losgegangen ist.
„Kennst du das Lied vom Loch Lomond?“, fragt mein Mann, als wir durch die ersten kleinen
Mittelgebirgshügel, vorbei an Heideland und gelb leuchtendem Stechginster laufen. Je höher wir kommen, desto besser wird der Blick auf den blauen Loch Lomond im Tal mit seinen Inselchen.
„Singst du jetzt?“, frage ich sorgenvoll. Er schaut mich schief an. Ein Moment der Stille.
„I won’t“, sagt er dann gespielt beleidigt und stapft weg. Mein Mann singt in etwa so gut, wie ich quadratische Gleichungen löse. Gar nicht.
Schon am zweiten Tag haben wir unser längstes Teilstück auf dem John Muir Way vor uns. 22 Kilometer durch die Kilpatrick Hills. Wir übernachten in Gästehäusern und in dem Naturschutzgebiet gibt‘s einfach nichts außer Moor. Tja, müssen wir da halt durchlaufen. Wir machen uns früh auf die Socken und lassen den Loch Lomond vom Vortag hinter uns.
Wir rasen nicht gern. Wenn möglich, laufen wir 10 bis 18 Kilometer am Tag.
Das reicht uns. Manche Weitwanderer, die die großen amerikanischen Trails wie den
Appalachian Trail oder den Pacific Crest Trail wandern, reißen 30 Kilometer pro Tag ab – teils über Bergpässe. Auf sowas haben wir keine Lust. Zusammen sind wir 113 Jahre alt und ich hab das
dringende Bedürfnis, niemandem mehr etwas beweisen zu müssen. Vor allem nicht mir selbst. Der Shit hier soll Spaß machen und ich möchte gern auch Zeit haben, um die Natur zu
genießen.
Dementsprechend machen wir eine Mittagspause im Moor, wo ich einen superweichen Flecken Moos finde, auf den man sich legen kann. Mit Blick auf kleine Wollgras-Puschel. Seltsamerweise ist das gesamte Moor voller abgeholzter Baumstümpfe. Später finde ich heraus, dass hier einst künstlich Bäume angepflanzt wurden, um sie dann regelmäßig abzuernten und das Holz zu verschachern. Dann hat man bemerkt, dass das den Moorboden kaputtmacht. Jetzt sollen die Bäume wieder ganz weg. Ach, Menschen. Ich finde das Umdenken gut, auch wenn es hier aktuell so aussieht wie nach einem Meteoriteneinschlag.
Besucher aus aller Welt kommen nach Falkirk, um sich diese Schiffsschleuse anzusehen, steht auf der Webseite des John Muir Ways. Nachdem die Webseite zuvor auch von anstrengenden, steilen Pfaden gesprochen hat, die am Ende bloß kleine Erdhügel waren, bin ich etwas zurückhaltend dem PR-Sprech gegenüber. Eine weltberühmte Schleuse – in… wo?
Zuerst kämpfen wir uns allerdings ewig lang am pottflachen und nur mäßig spannenden Forth & Clyde Canal entlang. Generell ist der John Muir Way relativ flach, kommt durch viele Dörfer mit Infrastruktur und ist deshalb aus meiner Sicht ein ganz cooler Einstieg ins Fernwandern für alle, die sowas noch nie gemacht haben. Ich vermisse jedoch ehrlich gesagt ein bisschen die Wildnis, die Berge und das Abenteuer. Aber ich war ja auch noch nicht im berühmten Falkirk!
Auf einmal kommt ein riesiges Konstrukt in Sicht, das aus Säulen und Ringen besteht und wie die Time-Machine im Film „Contact“ aussieht. Wenn die gleich anfängt zu summen und rot zu leuchten, würde es mich nicht wundern. Wie eine rotierende Unendlichkeitsschleife dreht sich das Teil, während es zwei Behälter mit Wasser wie auf rohen Eiern in Waage hält. Darin: Schiffe. Krass! Da muss ich näher ran!
Zack, bin ich einer der Besucher aus aller Welt, die sich das Falkirk Wheel anschauen.
Und holy moly, ist das ein cooles Teil! Die Schleuse von Falkirk ist die einzige rotierende
Schiffsschleuse der Welt. Sie verbindet den Forth & Clyde Canal mit dem 24 Meter höheren Union Canal, der komplett surreal wie eine abgebrochene Wasserrutsche über uns in der
Luft hängt. Vor dem Bau des Wheels hat es elf Schleusen und einen ganzen Tag gedauert, bis Schiffe diese Höhe überwunden hatten – jetzt dauert es etwa zehn Minuten. 1.200 Tonnen Stahl und
15.000 Bolzen wurden verbaut – jede per Hand angezogen. Jede Gondel fasst 500.000 Liter Wasser und wird durch kleine Rädchen genau in Waage gehalten. Ich rast aus. Ich bin ja echt kein
Ingenieur-Geek, aber das fetzt!
Am Ende des Tages fällt dann noch einer von Rands Schuhen auseinander. Zum Glück haben wir die Allzwecklösung Panzer-Tape am Start. Außerdem habe ich Magenkrämpfe wegen des vermutlich zu scharfen Wraps gestern Nacht. Etwas fertig, aber auch beflügelt crashen wir in die Unterkunft.
Kanäle sind wiederkehrende Elemente auf dem ersten Drittel des John Muir Ways. Allerdings habe ich wirklich langsam den Kaffee auf von denen. Heute sind es wieder acht Kilometer. Wir schummeln etwas und suchen uns nach einer Weile einen Parallelweg durch einen Wald, damit wir nicht schon wieder stundenlang an dem Wasserstreifen entlanglaufen müssen. Wobei, wir haben bestimmt jetzt die achte Familie mit Entenküken gesehen. Frühling in Schottland bedeutet: Küken, Lämmer, Kälber und vor allem Wildblumen überall – und noch keine Midges.
Eine Fernwanderung zeigt einem auf realistische Weise, wie ein Land wirklich aussieht – abseits der Highlights und Sehenswürdigkeiten bei Trip Advisor. Mit dem Auto donnert man oft von einer Attraktion zur nächsten und denkt „Boah, hier ist es viel schöner als in Deutschland!“ Dabei hat man bloß die Touristen-Brille auf und pickt sich nur die Rosinen aus dem Nusskuchen. Dabei schmecken Nüsse auch. Nur halt anders. Wenn man zu Fuß durch ein Land unterwegs ist, erfährt man am eigenen Körper, wie lang ein Kanal ist, dass nicht jede Stadt hübsch ist, dass es überall Mülldeponien und gammlige Kraftwerke gibt, wo die sozialen Brennpunkte liegen und dass die Menschen hier ein ganz normales Leben führen, wie überall auf der Welt sonst auch – und nicht nur romantisch in einem Highland-Schloss liegen und Dudelsack spielen.
Eine Sache fällt uns ganz besonders auf: Der John Muir Way führt unter anderem mitten durch
Edinburgh und je näher wir der Großstadt kommen, desto seltener werden wir gegrüßt, desto mehr hetzen die Leute umher, desto anonymer ist der Kontakt.
Zuerst kommen wir aber noch am Avon Aqueduct vorbei. Das ist nicht nur ein riesiges, altes Steinviadukt, sondern obendrauf ist… ein Kanal. Und nein, dieses Mal bin ich nicht genervt davon, denn irgendwie ist es ziemlich cool und verrückt, dass hier oben, 26 Meter über dem Boden, tatsächlich Schiffe hin- und herfahren. Wie ein Riesen-Märklin-Park.
Ungefähr hier liegt auch der Mittelpunkt des John Muir Ways. Einhundert Kilometer zu Fuß liegen hinter uns. Das Panzer-Tape hält noch, die Kanäle sind zu Ende. Jetzt geht es ans Meer. Ich bin an dem Punkt, sämtliche PR-Texte, Webseiten, Befürchtungen und Vorhersagen fallen zu lassen: Am Ende ist alles immer ganz anders als man denkt. Besser, schlechter – auf jeden Fall überraschend. Einfach mal hinlaufen.
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